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BECOMING VULNERABLE - 

AMBIVALENZEN DER SOLIDARITÄT

Kontroversen um Entanglements zwischen Antisemitismus, Kolonialrassismen und Holocaust in Geschichte und Erinnerungspolitik

INTERNATIONALE RINGVORLESUNG 2022/2023

mit Anitha Oforiwah Adu-Boahen, Teresa Koloma Beck, Donald Bloxham, Claudia Bruns, Max Czollek, Ibou Diop, Kirsten Dyck, Atina Grossmann, Norbert Finzsch, Ivan Kalmar, Helen Makhdoumian, Kristin Platt, Anna Reading, Michael Rothberg, Grzegorz Rossolinski-Liebe, Stefanie Schüler-Springorum und Natan Sznaider.

Leider muss am 01.02.23 der Vortrag von Anja Reuss entfallen. Stattdessen wird dankenswerterweise der folgende Vortrag zu hören sein (16-18 Uhr): "Konkurrierende Erinnerungsnarrative an Bandera, Holocaust und Holodomor in der Ukraine" (Grzegorz Rossolinski-Liebe, Berlin)

Mittwoch 16-18 Uhr c.t. ONLINE via ZOOM

Meeting-ID: 651 8063 6784

Passwort: 140933

Eine englische Übersetzung sowie eine Gebärdendolmetscherin stehen auf Anfrage zur Verfügung.

Aufzeichnungen der bisherigen Vorträge können per Mail bei xenia.mueller@hu-berlin.de angefragt werden.

  Der geschlossene Chat der Veranstaltung dient angesichts der sensiblen Themen, die verhandelt werden, dem Schutz der Referent*innen vor rassistischen, antisemitischen oder in anderer Form diskriminierende Angriffen und erfolgte bisher auf ausdrücklichen Wunsch der Referent*innen

In jüngster Zeit ist in Deutschland wie international heftig darüber gestritten worden, in welcher Beziehung Antisemitismen zu Kolonialrassismen stehen, wie Holocaust und koloniale Genozide historisch miteinander verbunden waren und welche erinnerungspolitischen Konsequenzen daraus zu ziehen sind. Darf oder soll der Holocaust mit kolonialen Genoziden verglichen, gar seine Singularität infrage gestellt werden? Welche (positiven) Konsequenzen hätte es andererseits, wenn wir koloniale Rassismen stärker in unsere Gedenkkultur einbeziehen würden? Lassen sich die Verbindungen zwischen unterschiedlichen Rassismen, Genoziden und Erinnerungsdiskursen nicht vielmehr produktiv machen und könnten dadurch, neben der Kritik am Antisemitismus, auch koloniale Rassismen in unserer Gegenwartskultur benennbarer und kritisierbarer werden? Wie lassen sich diese Fragen auf weniger verletzende Weise diskutieren als es bisher geschehen ist?

Anlass der gegenwärtigen Kontroverse, die als "Historiker*innenstreit 2.0" verhandelt wird, waren einerseits Antisemitismusvorwürfe gegenüber dem postkolonialen, kamerunischen Theoretiker Achille Mbembe (2020); andererseits die deutsche Übersetzung der Monografie zur "multidirektionalen Erinnerung" des US-amerikanischen Literaturwissenschaftlers Michael Rothberg (2021), die sich mit dem Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonialisierung befasst. An diese anknüpfend warf der australische Historiker Dirk Moses deutschen Historiker*innen vor, koloniale Genozide nicht ausreichend in die Holocaustforschung und -erinnerung einzubeziehen.

Seither prallen im "Historiker*innenstreit 2.0" scheinbar unvereinbare lokale und transnationale Erinnerungsdiskurse zu genozidaler Gewalt, Rassismus und Antisemitismus aufeinander. Die internationale Forschung hat Antisemitismus und Rassismus, Holocaust und Kolonialismus lange getrennt voneinander untersucht, woran sich konkurrierende Gedächtnisdiskurse anschlossen und institutionalisierten. Während z.B. in den USA und England Rassismus, koloniale Genozide und Versklavungsgeschichte im Fokus der Forschung standen, konzentrierte sich die deutsche Forschung seit den 1980er Jahren auf die Erforschung von Antisemitismus und Holocaust. Die kolonialen Verbrechen wurden hier nur mit zeitlicher Verzögerung thematisiert und erst in den letzten Jahren auch erinnerungspolitisch expliziter reflektiert.

Der Historiker*innenstreit 2.0 macht jedoch deutlich, wie stark die Universalisierung der Holocausterinnerung und das Erstarken postkolonialer Forschung inzwischen auch auf den deutschen Forschungskontext zum Holocaust zurückwirken, ohne hier durchgehend aufgegriffen werden. Durch die besondere Situation als Tätergesellschaft lag der Fokus auf der Erforschung von Holocaust und Antisemitismus, während Vergleichsperspektiven und Transferanalysen in den Hintergrund traten und durch den ersten Historikerstreit zusätzlich aufgrund ihres relativierenden Inhalts problematisch waren. Erst recht aus deutsch-jüdischer Perspektive und angesichts des widererstarkenden Antisemitismus in Deutschland war und ist die Debatte von großer Emotionalität und einer besonderen politischen Relevanz.

Andererseits geschieht durch eine Vernachlässigung kolonialer Genozide in Forschung und öffentlichem Gedenken den Nachkommen kolonialer Gewalt wie auch gegenwärtig von Rassismus betroffenen Gruppen erneut Unrecht, auf welches Bewegungen wie #BlackLivesMatter mit immer mehr Nachdruck aufmerksam machen. Die vollumfängliche Anerkennung vergangenen Leids ist nicht nur Voraussetzung für eine bessere Gegenwart, sie ist auch Schauplatz von erinnerungspolitischen Kämpfen, die in heiße Kriege münden können, wie nicht zuletzt der gegenwärtige Krieg Russlands gegen die Ukraine zeigt, in dem alle Konfliktparteien historische Rückbezüge auf vergangene Genozide nehmen, um aktuelles Gewalt- oder Widerstandshandeln zu legitimieren und Kollektividentitäten zu festigen.

Diese komplexen Dimensionen und noch immer virulenten Fragen des "Historiker*innenstreits 2.0" möchten wir in neuer Akzentuierung im Wintersemester 2022/23 an der Humboldt-Universität aufgreifen. Unter der Überschrift "Becoming vulnerable - Ambivalenzen der Solidarität. Entanglements zwischen Antisemitismus, Kolonialrassismen und Holocaust in Geschichte und Erinnerungspolitik" laden wir als Forschungsteam von Geschichts- und Kulturwissenschaftlerinnen renommierte Wissenschaftler*innen aus dem deutschen und internationalen Kontext ein, miteinander und mit einer größeren akademischen Öffentlichkeit ins Gespräch zu kommen. Wir setzen dabei einige neue Akzente.

Erstens möchten wir die kulturwissenschaftliche Perspektive, die Rothberg für die Memory Studies angestoßen hat, für die historische Forschung aufgreifen und dabei drei Dimensionen in den Blick nehmen:

  • die Frage, in welcher Beziehung Antisemitismen zu Kolonialrassismen stehen,
  • wie Holocaust und koloniale Genozide historisch miteinander verbunden waren und
  • zu welchen erinnerungspolitischen Debatten dies jeweils geführt hat.

Durch einen synthetisierenden Blick, den das Programm als Ganzes auf diese drei Dimensionen eröffnet, erhoffen wir uns, die Diskussion zu differenzieren und in ihrer tatsächlichen Komplexität konziser erfassen zu können.

Zweitens ist es uns wichtig, Differenzierungen in den Begriff des Kolonialrassismus einzuführen und unterschiedliche Rassismen, die in genozidaler Gewalt kulminierten, systematisch zur Sprache zu bringen sowie deren je spezifische Bezüge zum Holocaust auszumachen. Dabei konzentrieren wir uns auf antischwarze, indigene, anti-Roma und orientalistische Rassismen. Diese Differenzierung erlaubt es, die verschiedenen Kolonialrassismen in ihrer je besonderen räumlichen wie sozialen Situiertheit sowie ihrer jeweiligen Relation zum Holocaust zu erfassen und miteinander in Beziehung zu setzen, was bisher ein Desiderat in der Forschung darstellt.

Und drittens werden wir neue Akzente setzen, indem wir die Perspektive der jüngeren Vulnerabilitätsforschung fruchtbar machen, um die besondere Emotionalität der Debatte besser entschlüsseln zu können. "Verwundbarkeit" ist im beginnenden 21. Jahrhundert zu einem zentralen Thema des Politischen geworden. Politische Macht und politischer Widerstand, so scheint es, artikulieren sich zunehmend in Begriffen des "Ausgesetztseins", der exposure. Den partikularen Standpunkt, die körperlich eingeschriebene Leiderfahrung zum Ausgangspunkt politischer Ermächtigung und Solidarisierung wie auch zum Modus einer Erkenntnis, die von einer wechselseitigen Anerkennung und einer anderen Art der Wissensgenese geprägt ist, zu machen, verbindet die Ethik der Verwundbarkeit mit Fragen einer Gewaltgeschichte, die den Spuren von körperlichem Schmerz, Tod und Trauma nachgeht. Die neuere Vulnerabilitätsforschung erlaubt es so, zwischen ontologischer, ethischer und politischer Dimension von Verwundbarkeit zu unterscheiden, wodurch sich bestimmte konfliktauslösende Momente des Historiker*innenstreits 2.0 differenzierter aufschlüsseln und benennen lassen.

Mit der Veranstaltung möchten wir dazu beitragen, die Debatte zu entpolarisieren und neue Theoretisierungen und Formen wechselseitiger Solidarisierungen zu ermöglichen.